Seit November dreht sich der Alltag von Sofija und Aleksandar nur noch um die Proteste. «Ich kann es kaum erwarten, bis der Unterricht wieder beginnt und ich endlich Pause machen kann», sagt Sofija im Scherz.

Die Studierenden sind an der Spitze der aktuellen Protestwelle, die Serbien seit Monaten erfasst hat. Die meisten Fakultäten des Landes sind besetzt. Unterricht findet keiner mehr statt. Die Studierenden wollen ihr Studium erst wieder aufnehmen, wenn die Regierung ihre Forderungen erfüllt.

Legende: Die Proteste sind divers. Verschiedene Gruppen und Gemeinschaften machen ihrem Unmut Luft. Auf dem Plakat steht: «Ich will keine Rose. Ich will eine Revolution.» Keystone/EPA/ANDREJ CUKIC

Den Protest gegen die Regierung führen sie auf vielfältige Weise: Kreative Videos und Memes sind genauso Teil davon wie Strassenblockaden und bunte Massenproteste. In diesen Tagen fährt eine Gruppe mit dem Velo nach Strassburg, um die Spitzen der EU auf die Zustände in Serbien aufmerksam zu machen.

Bahnhofsunglück von Novi Sad als Auslöser

Auslöser des Protestes ist ein Unglück. Am 1. November 2024 stürzt das Bahnhofsvordach von Novi Sad ein. Sechzehn Menschen sterben, viele weitere werden verletzt. Dabei war der Bahnhof erst kurz davor saniert worden.

Noch am selben Abend spricht Präsident Aleksandar Vucic im Fernsehen und behauptet, das Vordach sei nicht Teil der Renovierungsarbeiten gewesen. Diese Aussage stellt sich als falsch heraus.

Viele vermuten daher, andere Gründe müssen hinter dem Einsturz stecken. Schnell rückt die Korruption als mögliche Ursache in den Fokus.

Kommission stellt schwere Mängel fest

Sofija Mandic ist Teil einer Kommission aus unabhängigen Experten und Expertinnen, welche die Hintergründe der Tragödie untersuchen. Sie analysieren alle Dokumente, die von der Regierung unter dem öffentlichen Druck veröffentlicht wurden. «Bei diesem staatlich geleiteten Projekt wurde gegen die Prinzipien des Gesetzes und der Verfassung verstossen.» Die Juristin sieht gleich mehrere Anzeichen für Korruption.

So habe es keine öffentlichen Ausschreibungen gegeben. Die Aufträge seien unter mehr als 2000 Unternehmen aufgeteilt worden, von denen viele kaum Erfahrungen auf dem Gebiet hätten, dafür aber über enge Verbindungen zur Regierung verfügten, so Mandic. Die Kosten des Projekts hätten sich während der Bauzeit verdreifacht. Auch seien bei der feierlichen Eröffnung nach der Sanierung noch nicht alle Kontrollen abgeschlossen gewesen. Das Unglück von Novi Sad sei das Versagen aller Institutionen, schliesst Sofija Mandic.

Menschen fordern Antworten

Die Hauptforderung der Studierenden ist die restlose Aufklärung des Unglücks. Doch schon längst geht es ihnen um mehr. «Wir konzentrieren uns auf die Institutionen», sagt Sofija. Diese sollten ihre Arbeit gemäss den geltenden Gesetzen erledigen, unabhängig davon, wer gerade an der Macht ist.

Die Ärzte wollten mich nicht behandeln, bevor ich ihnen nicht 100 oder 150 Euro bezahlt habe.
Autor: Aleksandar Studierender in Serbien

Das zweite Hauptanliegen sei die Korruption, die sie selbst im Alltag spürten. Aleksandar macht ein Beispiel: «Ich musste vor ein paar Jahren meinen Blinddarm entfernen. Die Ärzte wollten mich nicht behandeln, bevor ich ihnen nicht 100 oder 150 Euro bezahlt habe.»

System Vucic im Fokus

Präsident Aleksandar Vucic und seine serbische Fortschrittspartei kontrollieren praktisch alle Ebenen des Staates. Von den Gemeinden über die Justiz bis hin zu den meisten Medien, die entweder direkt oder indirekt unter der Kontrolle der Regierung stehen und offen ihre Propaganda verbreiten. Posten werden mit Getreuen besetzt, einen Arbeitsplatz in der Verwaltung oder in öffentlichen Unternehmen gibt es nur über Beziehungen.

Bei den letzten Parlamentswahlen im Dezember 2023 stellten Wahlbeobachter aus dem In- wie Ausland zudem erhebliche Unregelmässigkeiten fest. Nimmt man all dies zusammen, kann man Serbien höchstens noch als halbe Demokratie bezeichnen.

Legende: Der serbische Präsident Aleksandar Vucic auf einer Medienkonferenz in Belgrad am 6. April, wo er Djuro Macut zum neuen Premierminister des Landes ernannte. Keystone/ANDREJ CUKIC

Wenn die Studierenden also unabhängige Institutionen fordern, zielen sie direkt auf ebendieses umfassende Machtsystem, das sich Vucic in den letzten zwölf Jahren aufgebaut hat. Das ist allen klar, auch wenn sie es bewusst vermeiden, Präsident Vucic und die Regierung explizit herauszufordern.

Bauern ein wichtiger Teil des Protestes

Im Unterschied zu früheren Protesten gegen Vucics Politik ist der jetzige gesellschaftlich breit abgestützt. Das zeigte etwa der Grossprotest in der Hauptstadt Belgrad, als Mitte März laut unabhängigen Schätzungen über 300'000 Menschen auf die Strasse gingen. In Belgrad mit dabei war auch Dejan. Wie viele andere Bauern und Bäuerinnen auch hat er sich früh den Studierenden angeschlossen.

Legende: Die Traktoren der Bäuerinnen und Bauern sind an den Protesten jeweils nicht zu übersehen. Daneben haben sich aber auch andere Berufsgruppen solidarisiert, etwa Lehrer und Anwältinnen. SRF/Janis Fahrländer

Dejan baut in erster Linie Weizen an. Doch der Hof, den seine Eltern aufgebaut haben, ist nur noch eine Nebeneinkunft. Hauptberuflich ist Dejan Lehrer. Das Geld reicht am Ende des Monats trotzdem kaum aus.

Die Situation wird immer schlechter.
Autor: Dejan Lehrer und Bauer in Serbien

Die tiefen Löhne können nicht mehr mit den steigenden Lebenskosten aufgrund der Inflation mithalten. Die Bauern sind davon besonders betroffen. Preise für Dünger, Saatgut oder Maschinen sind gestiegen, während die Erträge dieselben geblieben sind. «Die Situation wird immer schlechter und die Regierung macht, was sie will», sagt Dejan. Von der Regierung erhalte er keinerlei Unterstützung. Subventionen wurden gar gekürzt.

Legende: Dejan wohnt in einem kleinen Dorf etwas ausserhalb von Novi Sad. Neben seinen Pferden hält er auch Hühner. Doch der Fokus liegt auf der Weizenproduktion. SRF/Janis Fahrländer

Die Menschen hätten sich mit all dem abgefunden und die Missstände einfach so hingenommen. Doch das Unglück von Novi Sad habe das Land wachgerüttelt. Auch ihn: «Ich war völlig schockiert», erzählt Dejan, der den Bahnhof selbst oft benutzt hat, um zu seiner Arbeit nach Novi Sad zu gelangen.

Studierende wollen weitermachen

Vucic stellt sich gerne als Macher dar, der das Land wirtschaftlich vorwärtsbringt. Dabei kämpfen die meisten Menschen mit sinkenden Reallöhnen und einer schlechten öffentlichen Versorgung. Dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist es, den die Menschen auf die Strasse treibt: «Dieser Bahnhof, den sie so offen beworben haben, ist plötzlich kollabiert und hat Menschen getötet», so der Student Aleksandar.

Die Opposition fordert die Bildung einer Übergangsregierung aus Expertinnen und Experten. Diese soll in einer festgelegten Frist faire und freie Wahlen organisieren. Diese Forderung wird zwar von einem Teil der Studierenden geteilt. Doch das Misstrauen gegenüber der chronisch zerstrittenen Opposition ist ebenfalls gross. Bislang vermeiden es die Studierenden daher, sich mit den Oppositionsparteien zu verbünden.

Präsident Aleksandar Vucic scheint die Krise aussitzen zu wollen. Zwar hat er auch schon mögliche Neuwahlen angedeutet. Doch mit der Ernennung eines neuen Regierungschefs am Sonntag scheint diese Option erst mal vom Tisch zu sein.

Legende: Djuro Macut: So heisst der neue Ministerpräsident Serbiens. Er hat keine politischen Erfahrungen und ist Medizinprofessor. Hier spricht er an einer Kundgebung im serbischen Jagodina. (24.1.2025) Keystone / ANTONIO AHEL

Eine Mehrheit der Studierenden dagegen will den Wandel durch den Druck der Strasse erzwingen. Auch Sofija: «Ich glaube, das ist eine Revolution», so die Studentin.

Tatsächlich haben die Studierenden mit ihrem stetigen Protest Präsident Vucic so sehr unter Druck gesetzt wie noch nie in seiner bisherigen Amtszeit. Doch ob das langfristig für einen Wandel im Land reicht, ist fraglich.

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