Queen Anne und Queen Bess sind fürs Erste sicher. Die beiden Hochöfen im Werk von British Steel in Scunthorpe in Lincolnshire können weiterlaufen. Die drohende Schließung der letzten verbliebenen Produktion von neuem Stahl in Großbritannien ist abgewendet, den beiden Königinnen bleibt das Schicksal ihrer beiden royalen Ofen-Kolleginnen Queen Mary und Queen Victoria bis auf Weiteres erspart. Die beiden stehen schon länger still.

Einen entscheidenden Schritt hat Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds am Dienstag persönlich überwacht. Er ist eigens zum Hafen von Immingham nördlich von Grimsby an der Himbermündung gereist, um dabei zu sein, wie Steinkohlekoks und Eisenerz gelöscht wurden. Bezahlt vom britischen Staat war diese Lieferung unabdingbar, um in Scunthorpe über den Frühling hinaus Stahl produzieren zu können.

Vorausgegangen war eine Sondersitzung des Parlaments am vergangenen Wochenende. Aus der Osterpause zurückgerufen, verabschiedeten die Abgeordneten am Samstag ein Notstandsgesetz, das dem Staat Kontrolle verschafft über Stahlwerke, die von der Schließung bedroht sind. Eigentümer können damit verpflichtet werden, die Produktion weiterzubetreiben. Widersetzen sie sich, kann der Staat den Betrieb übernehmen.

Zu der dramatischen Intervention sah die Regierung sich veranlasst, nachdem Verhandlungen mit dem chinesischen Stahlkonzern Jingye, dem Eigentümer von British Steel, gescheitert waren. Die beiden Hochöfen mit den klingenden Namen sind die letzten im Land, die in der Lage sind, aus Eisenerz neuen Stahl zu schmieden.

Ihr Ende hätte Großbritannien zum einzigen G-20-Staat ohne diese Option gemacht. Noch vor wenigen Jahren wäre das im Land vermutlich weniger drastisch beurteilt worden. Doch der freie Warenhandel ist durch protektionistische Bestrebungen zunehmend unter Druck geraten, die Sicherung der Versorgung mit Rohstahl aus dem eigenen Land hat entsprechend an Bedeutung gewonnen.

Ein entscheidender Wirtschaftszweig sei die Stahlbranche, sagte Reynolds. „Noch nie ist es so wichtig gewesen“, die heimische Widerstandsfähigkeit in den Lieferketten zu stärken, betonte er, und es liege „im nationalen Interesse, die britische Stahlproduktion für die Zukunft zu sichern“.

Einst große Bedeutung für das Land

Sowohl für die nationale Sicherheit als auch für die produzierende Industrie im Land sei Stahl entscheidend, betonte die Regierung und verwies unter anderem auf den Bahnverkehr, die Baubranche und den Verteidigungssektor.

Historisch hatte Stahl in Großbritannien eine erhebliche Bedeutung. Eng verbunden ist der Sektor mit der industriellen Revolution, die ihren Anfang auf der Insel genommen hat, und mit der frühen Industrialisierung des Landes. Lange konnten hier die Stahlöfen dabei auf nationale Vorkommen von Eisenerz und Koks zurückgreifen.

Doch seit Jahrzehnten hat sich der Schwerpunkt der Stahlherstellung weit nach Osten verschoben. 1019 Millionen Tonnen, 54 Prozent der weltweiten Produktion, entfielen 2023 auf China. Die nächstplatzierten großen Stahl-Experten – Indien, Japan, die USA und Russland – schaffen laut Daten der World Steel Association jeweils rund ein Zehntel dieses Produktionsvolumens.

In Großbritannien sind es gerade einmal 5,6 Millionen Tonnen, 0,3 Prozent der Herstellung weltweit. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 35 Millionen Tonnen. Vor Belgien und Spanien ist Deutschland auch das wichtigste Ursprungsland für britische Stahlimporte.

Im globalen Ranking ist das Land vom fünften Platz Ende der 1960er-Jahre auf Rang 26 abgerutscht. Innerhalb Europas sind Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich, Österreich, Polen und Belgien größer, was die Produktion von Stahl angeht.

Das rasante wirtschaftliche Wachstum in Asien hat auch die Unternehmensstruktur in der Branche entsprechend durcheinandergewirbelt. 27 der größten 50 Stahlunternehmen sind heute in der Volksrepublik beheimatet. In den USA sind es vier, in der EU drei.

Steigende Energiekosten erschwerten Lage zusätzlich

In der schrumpfenden Stahlbranche hat British Steel turbulente Jahre hinter sich. 2016 aus dem Langstahlgeschäft des indischen Tata-Konzerns vom Finanzinvestor Greybull Capital übernommen, wurde das Unternehmen bereits drei Jahre später zwangsliquidiert. Aus dieser Situation übernahm Jingye 2020 das Unternehmen.

Im ersten Geschäftsjahr unter Jingyes Führung sahen die Zahlen gut aus, sie zeigten ein profitables Unternehmen ohne Schulden. Doch aus dem Versprechen, daraus einen führenden europäischen Stahlproduzenten zu machen, wurde nichts. Das Unternehmen hatte schnell Mühe, Gewinne zu erwirtschaften.

Steigende Energiekosten machten das Arbeiten schwierig, die Preise für Energie sind in Großbritannien noch einmal ein gutes Stück höher als in Deutschland. Hinzu kamen die Kosten für Emissionszertifikate und der intensive Wettbewerb durch billigere Stahlimporte, unter anderem aus China.

Das Unternehmen rutschte in die roten Zahlen. 2022 meldete British Steel einen Verlust von 408 Millionen Pfund (476 Millionen Euro). Jingye erklärte vor Kurzem, die Hochöfen seien „finanziell nicht mehr tragbar“. Schätzungen gehen davon aus, dass der Standort jeden Tag 700.000 Pfund Verlust schreibt.

Noch schwieriger wird die Situation durch die Zölle von 25 Prozent auf Stahlimporte, die US-Präsident Donald Trump verhängt hat. Mit dem drohenden Aus für den Standort sind auch 3500 Arbeitsplätze in Gefahr.

Regierung sah sich zu Sondermaßnahmen gezwungen

Das Jingye-Management hat schon mit der konservativen Vorgängerregierung über mögliche Unterstützung verhandelt. Bereits im November 2023 kündigten die Chinesen an, die Hochöfen in Scunthorpe durch moderne Elektrolichtbogenöfen zu ersetzen. Sie brauchen weniger Energie und verursachen geringere Emissionen, können aber keinen Neustahl produzieren, sondern verarbeiten Altmetall.

Tata Steel hatte für den Standort Port Talbot in Südwales eine vergleichbare Maßnahme geplant und dafür 500 Millionen Pfund staatliche Zuschüsse gesichert. Doch die Gespräche zogen sich hin. Erschwert wurde die Situation durch Verzögerungen bei der Veröffentlichung der Geschäftsberichte.

Ende März lehnte das chinesische Unternehmen dann das Angebot der Regierung für 500 Millionen Pfund öffentlichen Unterstützung ab. Kurz darauf stornierten die Chinesen Bestellungen für Eisenerz, Kohle und weitere Rohstoffe für den Hochofenbetrieb. Die Regierung sah sich zu den jetzt erfolgten Sondermaßnahmen gezwungen.

Das Gezerre um Scunthorpe belastet auch die Beziehungen zur Volksrepublik. Zuletzt hatte die Regierung eine Chance für eine engere Zusammenarbeit gesehen. Doch am Wochenende hat Wirtschaftsminister Reynolds angedeutet, dass dringend klargestellt werden müsse, welche Sektoren für eine Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und China wirklich geeignet seien. Im Stahlsektor seien chinesische Investoren nicht mehr willkommen, betonte er.

„British Steel muss als Wendepunkt gesehen werden, was Bewertung der Sicherheit unserer kritischen Industrien betrifft, um sicherzustellen, dass sie nicht den Launen externer Akteure zum Opfer fallen“, ergänzte Tan Dhesi, Labour-Abgeordneter und Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Unterhauses.

Am Montag ruderte Downing Street dann zurück und stellte klar, dass es keine Pläne für intensive Überprüfungen von chinesischen Investitionen in Großbritannien gebe.

„Wir werden einen konsistenten, langfristigen und strategischen Ansatz gegenüber China verfolgen“, betonte ein Sprecher. Das chinesische Außenministerium hatte bereits eine Warnung Richtung Großbritannien geschickt, den Handel zwischen beiden Ländern nicht zu politisieren.

Wie es weiter geht mit der britischen Stahlindustrie bleibt offen. Beobachter sind sich einig, dass eine komplette Verstaatlichung von British Steel lediglich eine Übergangslösung sein kann.

Viel zu teuer sei die Produktion im Land auf die Dauer, zudem sind die wenigen Hochöfen alt und wenig effizient. Die Produktion muss auch laut den staatlichen Vorgaben bis 2025 vollständig dekarbonisiert werden. Die 2,5 Milliarden Pfund, die die Regierung zur Unterstützung des Sektors bereitgestellt hat, werden für die Herausforderungen nicht genügen.

Claudia Wanner schreibt für WELT vor allem über die britische Wirtschaft.

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