Rüstungsbranche sammelt ehemalige Autoindustrie-Mitarbeiter ein
Die aktuelle Veränderung der Weltlage führt zu vielen Unsicherheiten. Autobauer leiden unter wirtschaftlichen Problemen. Davon kann die Rüstungsindustrie profitieren. Wegen der steigenden Nachfrage werden Mitarbeiter aus Flautebranchen übernommen.
Während die Automobilindustrie in Deutschland wegen der schwachen Nachfrage Sparprogramme auflegt und Arbeitsplätze abbaut, erlebt die Rüstungsindustrie einen ausgewachsenen Boom. Die Abkehr der USA von den liberalen Demokratien Europas könnte die Auftragsbücher weiter füllen – und der angeschlagenen deutschen Wirtschaft nach zwei Jahren Rezession Auftrieb geben. Die Hersteller von Panzern, Munition und Militärfahrzeugen suchen händeringend nach Kapazitäten, Fachkräften und Fabriken, um den immer dringlicher werdenden Anfragen nachzukommen und ihre Produktion zügig hochzufahren. Dabei greifen sie auch bei der einstigen Vorzeigebranche zu und stellen von Autofirmen abgebautes Personal ein oder widmen ganze Fabriken um.
"Wir profitieren von den Schwierigkeiten der Autoindustrie", sagt Hensoldt-Chef Oliver Dörre. Das Unternehmen aus Taufkirchen bei München baut Hochleistungsradare, die in der Luftverteidigung der Ukraine zum Einsatz kommen. Man sei in Gesprächen mit den Autozulieferern Continental und Bosch über die Übernahme von Beschäftigten, erläutert Dörre.
Darüber hinaus könnte Hensoldt gewisse Komponenten per Auftragsfertigung von bisher auf die Autobranche spezialisierten Firmen herstellen lassen. "Dadurch würden wir der etablierten Basis der Automobilindustrie Auslastung zur Verfügung stellen." Hensoldt verbaue etwa Kabelbäume in Sensoren. Und die gebe es auch in Fahrzeugen. "Das Thema wird uns 2025 beschäftigen und wir werden hier die nächsten Schritte gehen", kündigt Dörre an.
Zeitenwende für die Rüstungsindustrie
Längst ist es nicht mehr nur die von Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ausgerufene Zeitenwende, die die deutschen Waffenschmieden antreibt. Mit der Abkehr der einstigen Schutzmacht USA unter Präsident Donald Trump von Europa zeichnet sich ein noch tieferer Einschnitt ab. Es mehren sich die Rufe nach verstärkten Rüstungsanstrengungen Europas, um eine drohende russische Aggression gegen die Demokratien im Westen abschrecken zu können. Zuletzt setzten die USA auch noch ihre Ukraine-Hilfen aus - ohne die Unterstützung Europas wäre das Land Russland schutzlos ausgeliefert.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte deshalb eine massive Förderung der Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten an - insgesamt sollen 800 Milliarden Euro an Finanzmitteln mobilisiert werden. In Deutschland einigten sich die Spitzen von Union und SPD darauf, Verteidigungsausgaben zu einem großen Teil von den Beschränkungen der Schuldenbremse auszunehmen, um so die Investitionen in diesem Bereich hochfahren zu können. Nach Informationen von Reuters hatten vier Top-Ökonomen ein Sondervermögen von 400 Milliarden Euro für die Bundeswehr vorgeschlagen. Rüstungsaktien setzten ihre Rally fort und verbuchten Kurssprünge zwischen drei und zehn Prozent.
Chance auf neue Arbeitsplätze
Auf die Rüstungsindustrie rollt jedenfalls eine Flut neuer Aufträge zu. Das könnte die stotternde Konjunktur anschieben, hoffen Ökonomen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der Europäischen Union um 0,9 bis 1,5 Prozent im Jahr steigen könnte. Voraussetzung wäre, dass die EU-Staaten ihre Militärausgaben vom Nato-Ziel von zwei Prozent auf 3,5 Prozent des BIP anhöben und von überwiegend US- auf heimische Hightech-Waffen umstiegen.
Die Bundesrepublik könnte sogar am oberen Ende der Spanne liegen, sagt IfW-Experte Johannes Binder. "Mittel- bis langfristig sehen wir vor allem aus der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte, dass solche Militärausgaben viel an Produktivitätsgewinnen, Spillover und Technologiefortschritten liefern können", erläuterte er. Würde Deutschland seine Verteidigungsausgaben auf drei Prozent des BIP anheben, könnten 245.000 neue Arbeitsplätze entstehen, vermuten EY-Experten. Jüngsten Statistiken zufolge arbeiten rund 387.000 Menschen in der deutschen Rüstungsindustrie - etwa die Hälfte der Beschäftigten der kriselnden Autoindustrie. Der Umsatz der Branche beläuft sich auf rund 47 Milliarden Euro, im Vergleich zu 506 Milliarden Euro Umsatz im Automobilsektor.
"Wir müssen die Verteidigungsindustrie als Wirtschaftsmotor für Deutschland sehen", sagt Hensoldt-Chef Dörre. "Wenn wir wirklich eine Verstetigung der Investitionen über die nächste Dekade sehen, dann wird das auch einen nachhaltigen Einfluss auf wirtschaftliche Entwicklungen in Deutschland haben."
Beschäftigte aus Flautebranchen
Angesichts des Fachkräftemangels ist ein Hochlauf unter Zeitdruck gar nicht so einfach. Bei der Suche nach Beschäftigten bedienen sich die Rüstungsschmieden bei Branchen, die derzeit mit einer Flaute zu kämpfen haben. So übernahm der deutsch-französische Panzerbauer KNDS jüngst das vor dem Aus stehende Werk des Bahntechnik-Konzerns Alstom in Görlitz und will gut die Hälfte der 700 Mitarbeiter weiterbeschäftigen.
Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat 100 Beschäftigten des defizitären Bremsenwerks von Continental in Gifhorn den Wechsel in eine Munitionsfabrik angeboten. Konzernchef Armin Papperger prüft außerdem, an den eigenen Standorten in Berlin und Neuss, die bislang zum zivilen Unternehmensteil gehörten, überwiegend Produkte oder Komponenten für die Sparte "Weapon and Ammunition" zu fertigen. Sie könnten "künftig von der industriellen Stärke, die der Rheinmetall-Konzern als bedeutender militärischer Ausrüster hat", profitieren. Auch für den Panzergetriebehersteller Renk ist die Automobilindustrie zuletzt verstärkt in den Fokus gerückt, sagte das Unternehmen auf Anfrage. "Gerade mit Blick auf die Skalierung von Produktionskapazitäten setzt Renk auch auf Know-how aus dem Automobilsektor." Weitere Details nannte das Unternehmen nicht.
Der Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen, selbst mit einem Sparprogramm und Stellenstreichungen beschäftigt, sucht nach neuen Eigentümern für einzelne Standorte, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Zudem unterstützt das Unternehmen Beschäftigte dabei, gegebenenfalls neue Arbeitgeber zu finden. "In diesem Kontext waren wir unter anderem auch mit Rüstungsunternehmen in Kontakt", erläutert ein ZF-Sprecher. Eine starke Industrie sei die Basis für ein starkes Europa. "Wo der Wandel im Fahrzeugantrieb Arbeitsplätze kostet, können sich industrielle Synergien ergeben, wenn Europa nun mehr in seine eigene Sicherheit investiert."
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke