Anfang April übte das 3. Minensuchgeschwader der Deutschen Marine mit anderen Nato-Einheiten in der Ostsee die Minensuche und die Beobachtung der kritischen Infrastruktur. Die Minenjagdboote gehören zur Einsatzflottille 1 in Kiel, die für den Schutz küstennaher Meeresgebiete zuständig ist, also auch für Nord- und Ostsee. Flottillenadmiral Christian Walter Meyer, 56, Kommandeur der Einsatzflottille 1, sagte WELT AM SONNTAG, wie er die Sicherheitslage in der Ostsee einschätzt.

WELT AM SONNTAG: Herr Admiral Meyer, der von Deutschland beschlagnahmte Tanker „Eventin“ wird der russischen „Schattenflotte“ zugerechnet. Im Januar trieb die „Eventin“ mit rund 100.0000 Tonnen Rohöl an Bord manövrierunfähig vor der Insel Rügen auf der Ostsee. Was dachten Sie, als Sie diese Nachricht hörten?

Christian Walter Meyer: Natürlich dachte ich daran, ob sich dieses Ereignis in eine Vielzahl anderer Vorfälle einreiht, die wir in den vergangenen Jahren beobachtet haben. Ich habe mich aber auch selbst zur Räson gerufen, nicht in eine überzogene Unruhe zu verfallen und den Blick weit zu lassen. Mit einer gewissen Sorge betrachte ich die Entwicklung per se, aber auch, dass wir uns von solchen Einzelaktionen sehr in Beschlag nehmen lassen. Schleifende Anker und ein Vorfall wie mit der „Eventin“ sind eine Form einer hybriden Bedrohung, der wir ausgesetzt sind. Das Spektrum ist aber viel größer, und es geht darum, sich bei dessen Betrachtung nicht einengen zu lassen.

WAMS: Nimmt Russlands Aktivität in der hybriden Kriegführung – auch gegen Europa und die Nato – seit dem Beginn des Ukrainekrieges zu?

Meyer: Russland sieht sich durch den Westen bedroht. Es ist ein Wesen der hybriden Aktivität, dass man sie nicht eindeutig zuordnen kann. Derzeit ist es im Grunde unmöglich, diese oder jene Aktion einem bestimmten Ursprung zuzuordnen. Aber die Anhäufung solcher Geschehnisse muss uns Sorge bereiten.

WAMS: Auch ein Frachter unter chinesischer Flagge wurde mit schleifendem Anker in der östlichen Ostsee entdeckt. Worauf lässt das schließen?

Meyer: Es ist ein Irrglaube, anhand der Flagge eine eindeutige Zuordnung treffen zu können. Die „Eventin“ etwa fuhr seinerzeit unter der Flagge von Panama. „Hybrid“ bedeutet, es wird gesteuert, es werden alle denkbaren Mittel zum Einsatz gebracht, um eine Gesellschaft zu verunsichern und ein staatliches Gefüge anzugehen. Und es wird sich nicht eindeutig zuordnen lassen.

WAMS: Wie ordnen Sie die Qualität dessen ein, was derzeit im Spannungsfeld zwischen Russland und der Nato auf der Ostsee geschieht?

Meyer: Wir haben das schon eine ganze Weile lang kommen sehen. Wenn ich sagen würde, das überrascht mich, dann wäre es nicht wahr. Die Situation ist nicht vergleichbar mit krisenhaften Entwicklungen der Vergangenheit. Selbst der Kalte Krieg war eine ganz andere Situation, und die Aufgabe, vor der die Marinen damals standen, war eine völlig unterschiedliche. Die Entwicklung beunruhigt mich aber zutiefst.

WAMS: Weil sich diese Situation leicht zuspitzen könnte?

Meyer: Sie beunruhigt mich deshalb, weil sie ganz konsequent eine Zuspitzung darstellt, die uns weit von der sicheren und friedlichen Vergangenheit entfernt. Das zwingt uns zu einer erhöhten Aufmerksamkeit und dazu, die originären Fähigkeiten der Streitkräfte – Verteidigung nach außen – wieder zu stärken. Und das ist alles andere als schön.

WAMS: Wenn ein Tanker wie die „Eventin“ manövrierunfähig und voll beladen tatsächlich havarieren würde – könnte solch eine Situation dann auch politisch schnell eskalieren?

Meyer: Das Risiko, dass einzelne Ereignisse eine hohe politische Relevanz entfalten, kann man nicht nur auf das Beispiel eines solchen Tankers beziehen. Es geht um sehr ursprüngliche Fragestellungen wie etwa den Respekt vor Grenzen, vor Territorium und Souveränität. Bei einem Fall wie der „Eventin“ geht es zudem um den Schutz der Umwelt. Und, ja, Ereignisse wie die Situation des Tankers können schnell auch eine hohe politische Relevanz erlangen.

WAMS: Welche Erfahrungen haben Sie in den vergangenen zwei Jahren mit dem neuen Unterwasser-Lagezentrum gemacht, das am Marinekommando in Rostock Informationen und Analysen hochkarätiger Akteure vereint, von Nato-Marinen und Küstenwachen bis hin zu Geheimdiensten?

Meyer: Wir haben nach dem Start stetig daran weitergearbeitet, und ich bin sehr zufrieden mit der Entwicklung, die das Ganze genommen hat. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht. Die Arbeit ist aber noch nicht beendet. Es geht weiterhin darum, alle relevanten Informationsquellen zu einem schlüssigen Lagebild zusammenzuführen. Wir schauen derzeit in der öffentlichen Diskussion sehr stark auf die Ostsee, aber das Thema Sicherheit erschöpft sich darin nicht. Die Nordsee hat die gleiche Bedeutung. Allein die Ostsee wiederum ist als kleines Randmeer ein Raum, in das Deutschlands Fläche ohne Weiteres hineinpassen würde. Das macht auch die Größe der Aufgabe deutlich.

WAMS: Die Ostsee ist nur durch drei – dänische – Meerengen zu erreichen und zu verlassen, den Öresund, den Großen und den Kleinen Belt. Macht es diese Beengtheit für die Deutsche Marine und ihre Nato-Partner besonders schwierig, mit russischen Marine- und Handelsschiffen zu agieren?

Meyer: Die Ostsee ist ein besonderer Operationsraum. Die Frage der Zugänge spielt dabei gar nicht die wichtigste Rolle. Die Meerengen machen es uns zunächst einmal leichter zu sehen, welche Schiffe sich dort hinein- und herausbewegen. Doch damit endet die Arbeit ja nicht, denn der Raum reicht ja weiter. Ein Randmeer wie die Ostsee hat dabei besondere Bedingungen im Vergleich zum Beispiel zu einem Seegebiet wie dem Atlantik. Als Einsatzflottille 1 haben wir allerdings die Mittel, die dafür konzipiert sind, in einem Randmeer gut und effektiv zu wirken.

WAMS: Wie stark ist die russische Marine im Ostseeraum aufgestellt, wenn man sie in einen Vergleich zu den Nato-Verbänden setzt?

Meyer: Russland hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich daran gearbeitet, seine Marine zu modernisieren – fahrende Einheiten, Sensoren, Kommunikationsmöglichkeiten. Die russische Marine ist nicht stehengeblieben.

WAMS: Ist die russische Ostseeflotte der Kern der russischen Seestreitmacht, abgesehen von deren global operierenden Atom-U-Booten?

Meyer: Die russische Marine ist in verschiedene Flotten aufgeteilt, es gibt Flotten am Pazifik, am Nordmeer, am Schwarzen Meer, an der Ostsee. Alle haben unterschiedliche Aufgaben und Schwerpunkte. Die Ostsee spielt für Russland und seine Marine eine besondere Rolle, ein großer Teil des Seeverkehrs von und nach Russland läuft über die Ostsee. Russland hat verständliches und legitimes Interesse, diese Seewege für sich zu nutzen und offenzuhalten. Die Ostsee hat für die russische Handelsflotte eine sehr hohe Bedeutung.

WAMS: Agiert die russische Marine in der Ostsee seit dem Beginn des Ukrainekrieges konfrontativer? Die Ausspähung von Nato-Schiffen durch Drohnen scheint ja üblich zu sein.

Meyer: Wir haben ein altes, noch immer gültiges Abkommen über die Verhaltensweisen beim Zusammentreffen mit russischen Einheiten auf See. Bislang kann ich nicht erkennen, dass russische Marineeinheiten unseren Einheiten offensiv oder aggressiv gegenübertreten. Eine erhöhte Aufmerksamkeit stellen wir aber schon fest.

WAMS: Wie ordnen Sie die Arbeits- und Kooperationsfähigkeit der Nato-Marinen im Ostseeraum ein?

Meyer: Die Kooperation läuft sehr intensiv, wie ich sie wahrnehme. Wir haben unverändert den sogenannten Nato-Standard, eine ausgezeichnete Grundlage, um gut miteinander zu kooperieren. Die Übungstätigkeit im Nato-Rahmen nimmt zu. Die Integration der neuen Nato-Mitgliedstaaten Finnland und Schweden ist nicht schwierig, weil die Zusammenarbeit zwischen uns und den beiden Staaten schon seit vielen Jahren etabliert ist. Wir fangen nicht bei null an, sondern greifen auf einen gewachsenen Erfahrungsschatz zu.

WAMS: Das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen Nato-Staaten wird seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump im Januar deutlich schwieriger. Hat das auch Auswirkungen auf die Arbeit der Nato-Marinen in der Ostsee?

Meyer: Ich stelle das bisher jedenfalls nicht fest.

WAMS: Finnland und Schweden haben hochmoderne Armeen. Der Nato-Beitritt beider Staaten müsste auch die Marinefähigkeiten des Bündnisses in der Ostsee erheblich stärken.

Meyer: Natürlich bedeutet das eine Stärkung. Ob sie erheblich ist oder nicht, lässt sich letztlich nur von der Frage herleiten, welchen Auftrag wir im Rahmen der Nato erfüllen sollen. Und was wir zu dessen Erfüllung brauchen.

WAMS: Welche Rolle spielt Polen aus Ihrer Sicht für die maritime Sicherheit auf der Ostsee? Das Land weist mit deutlich mehr als vier Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt innerhalb der Nato die höchsten Verteidigungsausgaben aus.

Meyer: Polen ist einer der großen Ostsee-Anrainer, und es spielt eine wichtige Rolle. Die Kooperation mit Polen fügt sich ein wie mit allen anderen Nato-Ostsee-Anrainern auch.

WAMS: Auf der Ostsee und vor allem auf der Nordsee wird ein wachsender Teil der europäischen Energieerzeugung in Form von Offshore-Windparks installiert. Wird unsere Energieversorgung verwundbarer, etwa auch im Kontext hybrider Attacken?

Meyer: Ich weiß nicht, ob die Infrastruktur zur Energieversorgung auf dem Meer leichter anzugreifen ist als an Land. Das hybride Spektrum hat ein gewaltiges Instrumentarium, das sich mit einer großen Bandbreite gegen uns richtet, auch gegen die Infrastruktur. Natürlich stellt der Schutz der Infrastruktur auf See eine weitere Aufgabe für Deutschland dar, und das unter den sehr speziellen und schwierigen Bedingungen der See. Ich vermag aber nicht zu beurteilen, ob das schwieriger ist, als die vielen Anlagen etwa der Energieversorgung an Land zu schützen. Wir werden uns mit dieser Frage jedenfalls auseinanderzusetzen haben.

WAMS: Die – voraussichtliche – künftige Regierungskoalition im Bund aus Union und SPD will die Verteidigungsausgaben deutlich aufstocken und im Bedarfsfall zudem die Schuldenbremse öffnen. Welches zusätzliche und neue Material bräuchte die Einsatzflottille 1 vordringlich?

Meyer: Alles, was uns in die Lage versetzt, unsere Präsenz in See zu erhöhen; alles, was hilft, die Kampfkraft weiter zu steigern; unbemannte Systeme in Ergänzung zu den bemannten Systemen, die wir haben – das sind aus meiner Sicht die drei Prioritäten. Und das alles vor allem sehr schnell.

WAMS: Brauchen Sie eher kleinere Schiffe und Boote?

Meyer: Für die kommenden Jahre weiß ich nicht, wie schnell es gelingt, neue Schiffe und Boote zu bauen. Aus Sicht der Einsatzflottille 1 wäre mir zunächst daran gelegen, die Einheiten, die wir haben, besonders schnell zu ertüchtigen, so dass sie uneingeschränkt ihrem Auftrag nachkommen können. Und das muss komplementär ergänzt werden durch unbemannte Systeme wie Drohnen, seien sie ferngelenkt oder autonom. Jedenfalls müssen sie schnell und einfach eingeführt und eingesetzt werden können.

WAMS: Ändert sich mit der heutigen Sicherheitslage das Auftragsspektrum und Anforderungsprofil der Marine?

Meyer: Die Zuständigkeiten zwischen Marine und der Bundespolizei, die für den Schutz der Küstengewässer zuständig ist, sind geregelt. Die Zusammenarbeit ist sehr eng und sehr gut. Aber: In einer zunehmend schwierigen Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit muss sich die Bundesrepublik Deutschland die Frage stellen, in welchem Regelungsrahmen sie die Aufgaben künftig zuweist. Da wäre es schon eine Überlegung wert, der Marine bei der Gefahrenabwehr eine andere Rolle zukommen zu lassen. Aber das geht über die Aufgaben der Einsatzflottille 1 weit hinaus.

Christian Walter Meyer, 56, trat im Jahr 1989 in die Deutsche Marine ein, die damals noch Bundesmarine hieß. Der Flottillenadmiral diente in zahlreichen Fach- und Führungspositionen in der Marine und im Bundesverteidigungsministerium. Unter anderem war er einer der letzten Kommandeure der deutschen Schnellboot-Einheiten, die 2016 außer Dienst gestellt wurden. Von 2022 bis 2024 koordinierte Meyer den Betrieb der deutschen Flotte im Marinekommando in Rostock. Seit 2024 führt er als Kommandeur die Einsatzflottille 1 in Kiel. Sie ist, mit 4500 Soldatinnen und Soldaten, einer der drei Großverbände der Deutschen Marine. Zur Einsatzflottille 1 zählen die Korvetten, die U-Boote, Flottendienst- und Minenjagdboote, das Seebataillon und das Kommando Spezialkräfte der Marine.

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Seit vielen Jahren berichtet er auch über die Marinerüstung und über die Deutsche Marine.

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