"Das ist wohl nicht die Reformregierung, die Deutschland bräuchte"
Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Felbermayr sieht in dem von Union und SPD vorgelegten Koalitionsvertrag keinen großen Wurf. Das Dokument trage ein deutliche sozialdemokratische Handschrift, bilanzierte der Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung gegenüber Capital. "Es waren offensichtlich komplexe Verhandlungen, bei denen sich die SPD in vielen Punkten durchsetzen konnte", so Felbermayr.
Sichtbar werde dies etwa bei der Rentenpolitik, wo die zukünftigen Koalitionspartner ein Rentenniveau von mindestens 48 Prozent garantieren und an der Mütterrente festhalten wollen. "Weil die Demografie sich aber nicht an Beschlüsse im Bundestag hält, wird die Bundesregierung in Zukunft in erheblichen Maßen zusätzliche Steuermittel in das Rentensystem bringen müssen", kritisiert der Ökonom. "Beide Koalitionspartner versündigen sich hier ein Stück weit an der jungen Generation."
Im Hinblick auf die geplante Steuerfreiheit von Überstundenzuschlägen stellt Felbermayr die Wirksamkeit der Maßnahme infrage. Es sei "fraglich, ob die steuerfreien Überstunden wirklich helfen, den Arbeitsanreiz zu erhöhen". Zuletzt habe es in Deutschland "ja eher einen Trend zur Teilzeit" gegeben. "Wenn man wirklich mehr Menschen in die Vollzeit bringen möchte, müsste man den sogenannten Mittelstandsbauch abschichten und in der Mitte der Einkommenssteuertarife etwas tun", so der Ökonom.

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capital"Strompreise müssen radikal sinken"
Ein "gutes Signal" nannte Felbermayr den Plan, die Stromsteuer auf europäische Mindestmaß senken zu wollen. Auch ein Industriestrompreis habe Vorteile. "Aber im Kern muss natürlich vor allem das Angebot steigen", forderte Felbermayr. "Die hohen Strompreise in Deutschland müssen radikal sinken – mit politischen Maßnahmen allein schafft man das nicht. Es scheint so, als würde es noch dauern, bis das gelingt."
Grundsätzlich sei es gut, "dass Deutschland jetzt eine handlungsfähige Regierung mit einer Mehrheit hat", urteilte der Ökonom. "Aber es ist wohl nicht die große Reformregierung, die Deutschland eigentlich bräuchte. Gewisse Realitäten, die in den kommenden Jahren schlagend werden, möchte man scheinbar nicht wahrnehmen."
Capital
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Mitarbeit: Niklas Wirminghaus- Koalitionsvertrag
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